Themenspezifische Specials
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Andreas Zurbriggen
Der Hirschengraben ist einer der städtischsten Berner Orte. Beinahe im Sekundentakt überqueren Trams und Busse den Platz. Inmitten dieses pulsierenden Treibens steht seit über 100 Jahren ein wenig beachteter Brunnen-Pavillon – eine Enklave der Ruhe. «Von hier aus lässt sich ungestört das urbane Leben beobachten», weist Laura Hindelang auf dieses Kleinod hin.
Unsere Mission ist jedoch eine andere. Wir wollen bei einem Stadtspaziergang das vertraute Umfeld mit unvoreingenommenem Blick erforschen. Laura Hindelang, seit Mai 2023 Professorin für Architekturgeschichte und Denkmalpflege an der Universität Bern, begleitet mich bei dieser Promenade. «Oftmals reicht es, die Aufmerksamkeit auf kleine Details zu richten, um in einer bekannten Umgebung bislang unbeachtete Qualitäten zu entdecken», gibt Hindelang eine erste Empfehlung.
In der Stadt Bern bieten die verschiedenen Quartiere auf engstem Raum ein grosses Kontrastprogramm. Wenige Meter nach dem Pavillon stehen wir vor einer ganz anderen Architektursprache: dem Mobiliar-Hauptsitz. Mein erster Eindruck: ein wenig ansprechendes Gebäude aus den 1980er-Jahren. «Dies ist ein extrem faszinierender Bau», interveniert Laura Hindelang: «Je nach Sonneneinstrahlung verändert sich die Fassadenwirkung des Gebäudes. Dessen Grundfarbe lässt sich dabei als Referenz an den grünlichen Berner Sandstein lesen, aus dem auch die Häuser am Hirschengraben gebaut sind.» Die Professorin empfiehlt, Architektur mit mehreren Sinnen wahrzunehmen. Wir riechen am Metall des Gebäudes und betasten die Materialität der Pfeiler.
Das Monbijouquartier war einst ländlich geprägt. «Da in der Berner Altstadt keine grossen Verwaltungsgebäude Platz hatten, entstanden diese ausserhalb des mittelalterlichen Stadtkerns», so Laura Hindelang. Wir nähern uns einem solchen Verwaltungsgebäude – der markanten (ehemaligen) Oberzolldirektion, Baujahr 1951/52. Intuitiv wirkt das Gebäude abweisend, bei näherem Hinschauen zeigt sich erst die Qualität der Architektur: die gekrümmte Fassade, die sich an das Gelände und die Verkehrsachsen anpasst oder die bewusst eingesetzten Farbtöne grün (Fassade) und rosa (Stützen). Ein äusserst filigran gestalteter Annex verbindet den Kopfbau mit dem Bürogebäude an der Monbijoustrasse.
Wenige Meter weiter – eine ganz andere Szenerie: Wir durchqueren den Monbijou-Park und werfen einen Blick auf die Villa Clairmont, eine Villa von 1890, die in Backsteinarchitektur mit Sandstein-Elementen wiederum die Farben grün und rot aufweist, quasi «Berner Farben». Eine Strasse weiter stossen wir auf eine wohlkomponierte Reihenhaussiedlung, begutachten das Betonrelief des ehemaligen Kinos Eiger und wagen uns in den Innenhof eines mächtigen Wohnblocks am Eigerplatz. «In Städten kann es spannend sein, nicht nur die Aussenfassaden zu betrachten, sondern auch das Leben in einem Innenhof zu entdecken», sagt Laura Hindelang.
Oftmals reicht es, die Aufmerksamkeit auf kleine Details zu richten, um bislang unbeachtete Qualitäten zu entdecken.
Unser Stadtspaziergang gleicht einer Reise durch die Zeit. Auf der Seftigenstrasse etwa lässt es sich bei Herrschaftssitzen des 19. Jahrhunderts in die italienischen Campagna imaginieren, wenige Minuten später passiert man einen Wohnblock inklusive vorgelagerter Tankstelle, wie es in den 1960er-Jahren chic war. Und am Schluss des Spaziergangs, einige hundert Meter weiter, streicheln wir ein Pony auf einem Bauernhof in Wabern. «Die Berner Quartiere sind sehr divers, was spannende Spaziergänge erlaubt», weiss die Professorin.
Und was kennzeichnet nun eine gute Flaneurin oder ein guter Flaneur aus? Laura Hindelang meint: «Man sollte sich Zeit geben und nichts Bestimmtes erwarten.» Ihr Tipp: Ein Quartier oder eine Strasse in verschiedenen Geschwindigkeiten erkunden – einmal mit dem Fahrrad, ein anderes Mal zu Fuss. «So eröffnen sich ganz andere Blickwinkel.»
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